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«Es hat noch genug Platz in der Schweiz»

kees_christiaanseDer ETH-Professor Kees Christiaanse beschäftigt sich mit weltweiten Urbanisierungsprozessen. Er stellt auch in der Schweiz eine Renaissance der Städte fest. Viel Potenzial sieht er in der Umnutzung von Industriebrachen und veralteten Siedlungen.

Das Schweizer Unwort des Jahres 2014 hiess «Dichtestress»: Einverstanden?

Kees Christiaanse: Für mich ist diese Diskussion tatsächlich ein Klagen auf extrem hohem Niveau. Wenn man sich andere Standorte in der Welt anschaut, relativiert sich der Begriff von selbst. In der Schweiz gibt es keinen Dichtestress!

Viele Leute beklagen sich aber trotzdem über den fortschreitenden Kulturlandverlust und das zubetonierte Mittelland. Sie finden das alles halb so schlimm?

Das Mittelland bietet eine sehr grosse Lebensqualität. Die Schweiz ist prozentual sehr gering besiedelt, weil in über 1000 Metern Höhe niemand mehr wohnt. Selbst im Mittelland gibt es noch viele grüne Flächen. Die Ballungsgebiete liegen vor allem in Agglomerationen um Zürich, Lausanne oder Genf. Und selbst in Zürich sieht man von überall her irgendwo einen bewaldeten Hügel, den man innerhalb von 15 Minuten erreicht. Zum Vergleich: In Holland leben im Viereck zwischen Amsterdam, Utrecht, Rotterdam und Den Haag gleich viele Leute wie im Mittelland, die Fläche ist aber halb so gross.

Weshalb ist die Schweiz weniger dicht bebaut als Holland?

In der Schweiz gibt es eine Vielzahl von rechtlichen Instrumenten, welche die Siedlungsentwicklung steuern. Agrarland darf beispielsweise nicht einfach in Bauland umgewandelt werden und der Wald ist heilig. Richtpläne regeln, wo was gebaut werden darf. In der Schweiz ist der Konkurrenzkampf zwischen den Gemeinden deshalb eingeschränkt. In anderen Ländern ist das anders, dort zählen mehr ökonomische Argumente. Die künftige Entwicklung der Siedlungen in der Schweiz hängt stark von der Anwendung dieser raumplanerischen Instrumente ab

Ein- und Zweifamilienhäuser besetzen in der Schweiz 70 Prozent der Wohnfläche. Auch hier könnten Häuser aufgestockt werden. Weshalb ist in diesen Zonen verdichtetes Bauen kaum ein Thema?

Der Mensch will ein eigenes Grundstück haben und möglichst wenig mit dem Nachbarn zu tun haben. Das ist ein Urinstinkt. Und so lange das in der Schweiz möglich ist, wird es Einfamilienhäuser geben. Der gut ausgebaute öffentliche Verkehr begünstigt die Zersiedelung zusätzlich. Diese tritt deshalb vor allem um Bahnhöfe in Kleinstädten und Dörfern auf. Die Zersiedelung hält sich aber in der Schweiz eigentlich in Grenzen und führte ja bisher nicht zu riesigen Grosswohnsiedlungen wie beispielsweise in Rotterdam oder Berlin.

Die Bevölkerung nimmt in der Schweiz zu. Sollen diese Leute in Grosswohnsiedlungen wohnen, wie beispielsweise in Zürich Affoltern?

Es gibt eine städtebauliche Alternative, die von der Anzahl Einwohner her vergleichbar ist wie Grosswohnsiedlungen, aber eine bessere Lebensumgebung schafft. Die Entwicklung geht mehr in Richtung Kombination von urbanen Stadtblöcken, in denen sowohl Wohnungen als auch beispielsweise Reihenhäuser vorkommen. Monofunktionale Siedlungen wie in Zürich Affoltern sind ja eigentlich nicht dicht gebaut und passen vor allem nicht zur stattfindenden Renaissance der Städte.

Wie sieht diese Renaissance der Städte aus?

Es handelt sich hier vor allem um eine sozialökonomische Entwicklung. Eine immer dynamischer werdende Gesellschaft besteht aus viel mehr Singles oder Senioren und die traditionelle Familie verliert an Bedeutung. Die Wirtschaftseinheiten werden kleiner, es gibt immer mehr Ich-AGs. Haushalte bestehen aus mehreren Leuten, die alle arbeiten. Der Bedarf an Kinderkrippen und anderen Einrichtungen des täglichen Bedarfs steigt deshalb. Die Bewohner wollen alles in Gehdistanz erreichen können. Das ist der Grund weshalb die urbane Kultur eine Renaissance erlebt.

Wo sollen solche urbanen Quartiere entstehen?

Wir führten Untersuchungen in den Kleinstädten Aarau, Olten und Grenchen durch. Dort gibt es noch sehr viele Flächen in der Bauzone und in ehemaligen Industriegebieten, die verdichtet bebaut werden könnten. Der Bund könnte heute sogar ein totales Bauverbot auf nichtbebautem Land erlassen. Die Nutzung von vorhandenen Flächen mit Industriebrachen und beispielsweise veralteten Siedlungen aus den 50er-Jahren würden problemlos ausreichen, um genug Wohnraum für die zukünftigen Einwohner zu schaffen. Ich glaube allerdings nicht, dass der Schweiz eine wirklich grosse Einwanderungswelle bevorsteht.

Braucht es mehr Hochhäuser?

Nein, es braucht nicht mehr Hochhäuser. Es bestehen viel mehr Kapazitäten auf den bestehenden Flächen als man denkt. Es hat noch genug Platz in der Schweiz. Wichtig ist es, kompakte Stadtteile präzis zu entwerfen. Dann wird man sehen, dass der Hochhaus-Aspekt gar nicht so wichtig ist. Aber natürlich habe ich nichts dagegen, wenn ab und zu irgendwo ein Hochhaus steht. Doch offenbar besteht in der Schweiz mit Ausnahme vielleicht in der Agglomeration Zürich wenig Bedarf nach Hochhäusern.

Mit der Zunahme von Klein-Haushalten steigt die in der Schweiz im internationalen Vergleich hohe durchschnittliche Wohnraumfläche pro Person noch mehr an.

Nach einem exponentiellen Wachstum der bewohnten Quadratmeter pro Person dürfte der Sättigungspunkt allmählich erreicht sein. Aber ein bisschen Luxus ist ja keine Sünde. Wir sind ja letztlich auf der Welt, um ein angenehmes Leben zu führen. Eine grosse Wohnung ist kein Problem, solange diese energietechnisch umweltverträglich funktioniert. Und das wird künftig kein Problem sein, weil Nullenergiehäuser in Zukunft Standard sein werden. Das heisst, jedes Haus wird seinen Energiebedarf selbst decken.

Wenn urbane und landwirtschaftliche Nutzungs- und Siedlungsformen nebeneinander vorkommen oder gar zusammenfliessen, spricht man in der Stadtgeografie von Desakota. Der Begriff kommt aus dem asiatischen Raum. Ist die Schweiz ein Desakota?

Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt tatsächlich nicht in Städten sondern in solchen besiedelten Landschaften. Sie sind ein zukünftiges Urbanisierungsmodell. Das Mittelland in der Schweiz ist eine schöne Variante von einem Desakota. Ganz Westeuropa ist ein optimales Beispiel für eine nachhaltige Lebensumgebung. Mit einer guten technischen Infrastruktur, in der die Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln und die Entsorgung von Abfällen funktioniert. Man hat eine gute Mobilität zwischen den Städten. Trotz dem Gemecker um die Krise funktioniert Europa besser als andere Teile der Welt.

 

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1989 gründete Kees Christiaanse in Rotterdam sein eigenes Architektur- und Planungsbüro. Er spezialisierte sich auf die Erstellung von Masterplänen für die Wiederbelebung von ehemaligen Industrie- und Hafengebieten und von Flughäfen. Seit 2003 ist der gebürtige Holländer Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich. Er beschäftigt sich dort insbesondere mit den Herausforderungen eines nachhaltigen Städtebaus.

www.christiaanse.arch.ethz.ch

 

Dieser Artikel erschien in der Kundenzeitschrift next floor von Schindler Aufzüge

Veröffentlicht in Blog

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